BRIEF VON PAPST JOHANNES PAUL II.
AN ALLE DEUTSCHEN KARDINÄLE
Verehrter, lieber Bruder!
1. Die Berufung von vier weiteren herausragenden Kirchenmännern aus Deutschland
in das Kardinalskollegium hat die deutschen Purpurträger innerhalb des Senates
des Papstes zu einer stattlichen Gruppe gemacht. Sicherlich haben Sie
verstanden, was mich zu diesen Ernennungen bewogen hat: Ich wollte auch auf
diese Weise meine Dankbarkeit und Anerkennung für die Verdienste zum Ausdruck
bringen, die jedem einzelnen der neuen Kardinäle zukommen. Gleichzeitig wollte
ich meine herzliche Wertschätzung bekunden, die ich für die ganze Kirche hege,
die in Ihrem Land lebt und wirkt. Ich weiß um den unermüdlichen Einsatz, mit
dem Sie, verehrter Bruder, sich in diesen schwierigen Zeiten Tag für Tag den
pastoralen Aufgaben widmen, die Ihnen anvertraut sind. Ich bin mir sicher, daß die Erhebung in die Kardinalswürde für Sie ein weiterer
Anstoß ist, sich im Zeugnis für Christus und sein Evangelium hochherzig
einzusetzen. Zugleich anerkenne ich, daß die Kirche
in Deutschland im Hinblick auf ihr Wirken dynamisch ist und sich in wahrhaft
rühmenswerter Weise um die Brüder und Schwestern in Not sorgt.
Wir haben vor kurzem das Große Jubiläum beschlossen, in dem die Kirche neu erfahren hat, daß der Auferstandene in ihr lebendig gegenwärtig ist. »Jetzt gilt es, die empfangene Gnade zu beherzigen und sie in eifrige Vorsätze und konkrete Maßstäbe zum Handeln umzusetzen« (Novo millennio ineunte, 3). Gerade in diesem Horizont möchte ich Ihnen, Herr Kardinal, einige Gedanken vorlegen, die in diesen Monaten in mir gereift sind. Die Probleme, die die Gläubigen in Deutschland angehen müssen, sind im wesentlichen jene, die man ebenso in anderen europäischen Ländern antrifft. Doch es gibt auch örtliche Eigenheiten, die es nötig machen, daß die Hirten sowohl im Wissen darum als auch im Handeln an einem Strang ziehen, um rechtzeitig und wirkungsvoll pastorale Maßnahmen zu ergreifen.
2. Dankbar stelle ich fest, daß die Kirche in Ihrem Land eine solide organisatorische Struktur besitzt und durch eine Vielzahl von Einrichtungen im öffentlichen Leben präsent ist. Zugleich ist nicht zu übersehen, daß sich immer mehr Menschen vom aktiven Glaubensleben zurückziehen oder nur noch Teile des Evangeliums und der kirchlichen Lehre annehmen. Der fortschreitende Prozeß der Säkularisierung und der damit verbundene Glaubensschwund droht die Kirche von innen her auszuhöhlen, so daß sie zwar nach außen hin stark erscheint, aber innerlich kraftloser wird und auch an Glaubwürdigkeit verliert. Ich möchte Sie deshalb bitten, Ihre vielfältigen Gaben in erster Linie dafür einzusetzen, daß der katholische Glaube in seiner Fülle und Schönheit mit neuem Elan verkündet wird. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die theologischen Ausbildungsstätten und die Priesterseminare zu richten.
Jene, die im Namen der Kirche den Dienst der Lehre und der Leitung ausüben, müssen fest im Glauben der Kirche verankert sein, um nicht dem Zeitgeist oder der Resignation zu verfallen. »Das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube« (1 Joh 5,4). Die Lehre in den Theologischen Fakultäten ist nicht dem freien Belieben anheimgegeben, sondern muß vom Grundgesetz der »fides quaerens intellectum« bestimmt sein, vom Glauben kommen und zum Glauben führen. Die Katechese muß auf allen Stufen zum Glauben mit der Kirche verhelfen. Der Katechismus der Katholischen Kirche und der Katechismus Eurer Bischofskonferenz bieten dafür die verläßlichen Grundlagen. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß die Bischöfe ermutigt werden, ihre persönliche Verantwortung für die katholische Lehre kraftvoll wahrzunehmen, auch und gerade in schwierigen Fragen, in denen sich die Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri und die Einbindung in die Weltkirche bewähren muß.
3. Große Sorgen bereiten mir verschiedene Entwicklungen im Bereich von Ehe und Familie. Auch in Ihrem Land wird das Verständnis der Ehe als Lebens- und Liebesbund zwischen Mann und Frau, der auf das Wohl der Ehegatten sowie auf die Zeugung und Erziehung von Kindern hingeordnet ist, von vielen Menschen und auch vom Gesetzgeber in Frage gestellt. Der daraus resultierende Verfall an menschlichen und christlichen Werten ist unabsehbar. Die Treue zu Christus verpflichtet uns, die Gläubigen auf die tragischen Folgen dieser Entwicklungen hinzuweisen und ihnen einen anderen Weg zu zeigen. Daher bitte ich Sie, zusammen mit den Bischöfen klare Orientierungen zu geben, damit viele Gläubige dem Plan des Schöpfers über Ehe und Familie entsprechen, die Kinder und Jugendlichen im Glauben erziehen und sich getreu an die moralischen Prinzipien halten, wie sie in der Enzyklika Humanae vitae, im Nachsynodalen Mahnschreiben Familiaris consortio und im Schreiben der Glaubenskongregation über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen dargelegt sind. Die Zukunft der Kirche und der Gesellschaft hängt wesentlich von der Zukunft der Familie ab. Ihr Land hat auch in dieser Frage eine wesentliche Mitverantwortung für viele andere Staaten Europas und darüber hinaus.
4. Ein Thema, mit dem Sie in Deutschland ständig konfrontiert werden, ist die Ökumene in ihren vielfältigen Ausdrucksformen. Der Weg der Ökumene, den das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet hat, ist unumkehrbar. Er ist eine Aufgabe, die der Herr uns gestellt hat. Wir müssen daher alles uns Mögliche tun, um die Einheit der Christen in der Wahrheit und in der Liebe zu fördern. Ich bin mir sicher, daß Sie sich dafür einsetzen werden, die oft zähen Bemühungen um die Einheit nicht ins Stocken geraten zu lassen. Zugleich liegt es mir am Herzen, daß diese Bemühungen in manchen Ländern, auch in Ihrer Heimat, eine noch bessere Orientierung bekommen. Es gibt nämlich mancherorts Verwirrung und Mißbräuche – ich denke etwa an die nicht selten praktizierte Interkommunion –, die dem Anliegen der wahren Einheit sehr schaden. Eine Ökumene, die die Wahrheitsfrage mehr oder weniger beiseite ließe, könnte nur zu Scheinerfolgen führen. Die Erklärung Dominus Iesus hat den Gläubigen wesentliche christologische und ekklesiologische Wahrheiten in Erinnerung gerufen, die unaufgebbar zum katholischen Selbstverständnis gehören. Ich vertraue darauf, daß Sie auf dem festen Fundament dieser Erklärung den ökumenischen Dialog zu fördern und entsprechend Ihren Aufgaben zu leiten wissen.
5. Schließlich möchte ich noch eine Frage anschneiden, die in der Seelsorge vor Ort von erheblicher Bedeutung ist. Ich meine die so wichtige Zusammenarbeit von Priestern und Laien im pastoralen Dienst. In vielen Pfarreien und kirchlichen Gemeinschaften hat sich diese Zusammenarbeit bewährt und als fruchtbar erwiesen. Nur gemeinsam können wir die gewaltigen Herausforderungen der Gegenwart meistern. Leider geht aber aus zuverlässigen Informationen hervor, daß es trotz vieler lehramtlicher Klarstellungen weiterhin Vorfälle in Liturgie, Predigt, Katechese und Gemeindeleitung gibt, die nicht mit den lehrmäßigen und disziplinären Vorgaben der Kirche übereinstimmen. Auch wenn solche Vorgänge im Augenblick nützlich scheinen und im durchschnittlichen Bewußtsein eine beträchtliche Plausibilität beanspruchen können, schaden sie gerade auch der Ortskirche auf längere Sicht, weil sie dem inneren Wesen der Kirche entgegenstehen. Deswegen lege ich Ihnen dringend ans Herz, den in der Pastoral Tätigen zu helfen, die Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester besser zu verstehen und treulich in die Praxis umzusetzen. Es geht hier letztlich um die Frage der Identität der Priester und der Laien, die für die Kirche lebenswichtig ist. Mit dieser Bitte verbinde ich auch die Hoffnung auf neue Initiativen in der Berufungspastoral. Die so ersehnte Erneuerung der Kirche ist ohne Erneuerung des Priestertums und des gottgeweihten Lebens nicht möglich.
6. Das sind, lieber und verehrter Bruder, die Überlegungen, die ich mit Ihnen in diesem für das Leben der Kirche in Ihrem Land so bedeutsamen Augenblick teilen wollte. Ich weiß um den hochherzigen Einsatz, mit dem Sie Ihren Dienst ausüben, und kenne auch die tiefen Gefühle der Gemeinschaft mit dem Hl. Stuhl, die Ihr pastorales Handeln auszeichnen. Daher bin ich sicher, daß Sie die Sorgen beherzigen werden, die ich Ihnen in diesem meinem Schreiben zur Kenntnis gebracht habe. Die Einladung, die Christus einst an den Ufern des Sees Gennesaret an Petrus und seine Gefährten richtete, sagt er heute uns: »Duc in altum«! Fahr hinaus auf den See! (Lk 5,4). Am Beginn eines neuen Jahrtausends spürt die Kirche lebendig ihre Pflicht, neu »bei Christus aufzubrechen«, um der Welt seine Heilsbotschaft zu verkündigen (vgl. Novo millennio ineunte, 29ff.). Aus dieser Sicht dringt die Bitte des göttlichen Meisters mächtiger denn je an unser Herz: »Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast« (Joh 17,21).
Ich versichere Ihnen, im täglichen Gebet die Freuden und Sorgen, die Sie persönlich und die Kirche in Deutschland bewegen, vor den Herrn zu tragen, und erteile Ihnen von Herzen den Apostolischen Segen.
Aus dem Vatikan, am 22. Februar 2001, Fest der Kathedra Petri
IOANNES PAULUS PP. II.